Hochwasserkatastrophe 2021 – Lehren für die Technik der Zukunft?

Auch mich hat das persönliche Leid der Menschen, die alles verloren haben und die vielen Toten und Verletzten schockiert. Vorrangig ist natürlich jetzt das Helfen vor Ort, jedoch haben mich als Informatiker auch die Berichte zum nicht vollständig funktionierenden Warnsystem beschäftigt.

4 Tage vorab bekannte Informationen

Die Bilder der Flutkatastrophe waren in den letzten Tagen auf allen Medien zu sehen. Die Opferzahlen stehen noch nicht abschließend fest. Aktuell hat NRW, Rheinland-Pfalz und Bayern zusammen 166 Todesopfer gemeldet (Quelle 1). Jeder Tote und Verletzte sind einer zu viel und das Ausmaß der Opferzahl ist für eine Industrienation wie Deutschland besorgniserregend. Auch die Sachschäden hätten geringer sein können, wenn die Bevölkerung einen ausreichenden zeitlichen Vorsprung gehabt hätte. Wichtigstes Medium bei solchen Extremereignissen ist ein funktionierendes Warnsystem, dass die bereits vor Tagen bekannte Information zum Starkregenereignis (laut Europäischen Hochwasseraufklärungssystems (EFAS) bereits 4 Tage im Voraus bekannt, Quelle 2) an die potentiell betroffene Bevölkerung zuverlässig weitergibt. Die Bevölkerung hätte so beispielsweise ihr wertvolles Hab und Gut – das vielerorts nicht durch eine Hochwasserschutzversicherung versichert war – so frühzeitig in Sicherheit bringen können und Menschen aus zu tief gelegene Wohnungen hätten evakuiert werden können.

Hinweise in den Medien auf Versagen des Warnsystems

Da werden die Erinnerungen in der Bevölkerung an den vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) abgehaltenen bundesweiten Warntag 2020 und die dabei aufgedeckten Schwachstellen wieder wach. Die Artikel in den Medien deuten bei der Flutkatastrophe 2021 leider erneut auf ein Versagen der frühzeitigen Warnung der Bevölkerung hin (Quelle 3, Quelle 4, Quelle 5, Quelle 6, Quelle 7). Das wird natürlich im Nachgang professionell untersucht werden müssen und Forderungen der Grünen nach mehr Zentralismus im Katastrophenschutz (Quelle 8) sind möglichweise zu sehr aus der Hüfte geschossen. Daher können die nachfolgenden Ausführungen natürlich noch keine abschließende Bewertung des Gesamtgeschehens sein.

Fragen

Es stellen sich für mich bereits jetzt folgende Fragen:

  1. Welche substanziellen Verbesserungen hat es aufgrund der Auswertung des bundesweiten Warntages 2020 gegeben?
  2. Was sind die möglichen Ursachen für die vielerorts zu späte Warnung der Bevölkerung?

Um eine gute Ausgangsbasis zu bekommen, habe ich eine Webrecherche durchgeführt, um zu ergründen, was zum in den Medien berichteten Versagen der hörbaren Warnung der Bevölkerung geführt haben könnte.

Historie

Für die Bewertung der aktuellen Situation lohnt es sich die zeitliche Entwicklung anzusehen, die das Warnsystem in Deutschland durchlaufen hat. Der KFV Schweinfurt schreibt dazu auf seiner Webseite (Quelle 9), dass die Sirenen mit sog. Weckfunktion nach dem Wegfall der Warnämter des Zivilschutz-Warndienstes in den 1990ern von den Städten und Gemeinden (Quelle 10) übernommen wurden. Nachdem diese ab sofort für den Unterhalt aufkommen mussten, wurden die bisher 100.000 Sirenen aus Kostengründen reduziert. Das KFV Schweinfurt stellt fest, dass es kein flächendeckendes Warnsystem mit Weckfunktion mehr in Deutschland gibt. Das BBK suche nach neuen Medien dafür. Seitdem besitzen nur noch bestimmte größere Städte ein Sirenenwarnsystem. Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten, dass zu niedrige Haushaltsmittel in den Kassen der Städte und Gemeinden zur Ausdünnung des Sirenenwarnsystems mit Weckfunktion geführt haben.

Was ist MoWas?

Das BBK setzt das sog. Modulare Warnsystem (kurz MoWas) als Ergänzung der zuvor beschriebenen ausgedünnten Warninfrastruktur der Länder ein (Quelle 11). Die Übertragung der Warnung erfolgt dabei redundant über Satelliten und kabelgebunden. Ausgespielt werden die Warnmeldungen laut BBK über Warnapps, Radio, Fernsehen und Internet (Quelle 12). Was mich wundert ist, was das BBK über die Geräte mit Weckeffekt schreibt:

„Ein Weckeffekt kann enthalten sein, sofern das Gerät entsprechend vorbereitet oder eingestellt ist. Ausdrücklich als Warnmittel mit Weckeffekt werden Endgeräte bezeichnet, die ausschließlich ein Wecksignal aussenden (z.B. Sirenen).“

Quelle 13

Die Anbindung an MoWas wurden bspw. In einem Pilotprojekt der Städteregion Aachen 2017 angegangen (Quelle 14), was wahrscheinlich die Ausnahme ist, denn sonst hätte das BBK sicher davon geschrieben. Weiteres Zwischenfazit ist, dass die Sirenen, soweit überhaupt vorhanden, nicht flächendeckend an MoWas technisch angebunden sind, sondern durch die zuständigen Personen dezentral ausgelöst werden müssen.

Wie erfolgt die Warnmeldung an die Sirenen?

Welche Stelle kann technisch die Sirenen auslösen, habe ich mich gefragt. Meine Recherche hat mich auf einen Artikel des Thüringer Ministeriums für Inneres und Kommunales gebracht (Quelle 15). Dort ist das vernünftige Ziel beschrieben, dass das bestehende Sirennetz durch die vorhandenen zentralen Leitstellen angesteuert werden soll. Dies war ein Ergebnis des Bundesweiten Warntages 2020. Demnach soll die vorhandene Ansteuerung über den Analogfunk-Standard der 5-Ton-Ruffolge im analogen BOS-Funk durch Aufrüstung der Sirenen und Leistellen eine Ansteuerung über das TETRA BOS-Digitalfunknetz möglich werden.

Finanziert wird dies über ein Förderprogramm, bei denen das Land Thüringen einen Teil der Kosten, auch für den Neubau von Sirenen, übernimmt. Den anderen Teil der Kosten haben die Städte und Gemeinden zu tragen. Die Landkreise können für diese die Abwicklung durchführen, sofern sie dazu bevollmächtigt wurden. Auch wenn eine analoge Ansteuerung möglich ist, warum kann dann im Einzelfall eine Sirene nicht auslösen. In der Wikipedia findet sich hier ein möglicher Grund: Stromausfall (Quelle 16), denn offenbar sind die vorhandenen Sirenen nicht durch Akkus gegen Stromausfall geschützt. Das Thema funktionierende Sirenen war auch bereits ein Fazit aus dem Bundesweiten Warntages 2020, bei dem das BBK bis heute nicht abschließend ermitteln konnte, wie viele Sirenen das Warnsignal ausgegeben d.h. technisch funktioniert haben.

Fazit der Recherche

Verbesserungen aus dem Fehlschlag des bundesweiten Warntages weisen teilweise handwerkliche Fehler auf (ich habe nicht alle Bundesländer überprüft). Wenn eine Behörde Aufgaben an eine andere Behörde abgibt, ohne dass der neue Aufgabenträger ausreichend Mittel (hier für die Sirenenbeschaffung, -Modernisierung und -Wartung) erhält, ist das problematisch. Die Lösung über Förderprogramme, bei denen die neuen Aufgabenträger wegen klammer Finanzen – siehe aktuelles Problem beim Abruf der Mittel für Luftreinigungsgeräte wegen Corona in Schulen (Quelle 17) – nicht den Restbetrag nach Abzug der Förderung finanzieren können, ist verbesserungsbedürftig. Ursache für die zu späte Warnung der Bevölkerung ist höchstwahrscheinlich das veraltete und nicht voll funktionstüchtige Warnsystem mit Sirenen, die den Großteil der Bevölkerung erreicht hätten.

Lösungsvorschlag

Mehr Zentralisierung durch den Bund ist hier nicht die Lösung, sondern vielmehr wäre es zielführend die bestehenden Strukturen zu nutzen. Dies bedeutet, dass je Bundesland eine Erhebung der Sirenen nach Anzahl, Technik/Hersteller und Zustand erfolgt (Ist-Stand, inkl. ableitbarer Modernisierungsbedarf). Darüber hinaus sollen die für den Katastrophenschutz zuständige Stellen in den für den Katastrophenschutz zuständigen Kreisverwaltungsbehörden den Bedarf nach ergänzenden Sirenen ermitteln.

Diese Erhebung des Sollstandes wird dann von Bund und dem jew. Bundesland als sog. Kofinanzierung vollständig bezahlt. Die Planung, Ausschreibung (ggf. über Rahmenverträge) und Installation wird durch die staatlichen Bauämter, wie bisher auch für andere öffentliche Baumaßnahmen für Kreise und Gemeinden (die dies wünschen), koordiniert. Der Personalmehrbedarf bei den staatlichen Bauämtern muss dabei natürlich berücksichtigt werden. Die Gemeinden haben so nichts mehr mit der Abwicklung und Finanzierung zu tun. Für die Wartung der Anlagen schließt das Bauamt – am Besten über Rahmenverträge (bspw. Ausschreibung über die bayrische Vergabeplattform) – geeignete Wartungsverträge mit lokal ansässigen Unternehmen. Ansprechpartner der staatlichen Bauämter ist die Kreisverwaltungsbehörde. Vielleicht liest ja ein Entscheider diesen Beitrag und kann die Ideen zur Problemlösung berücksichtigen.

Kurz gesagt:

  • Vollständige Finanzierung moderner ausfallsicherer Sirenen, die sowohl analogen als auch digitalen Funk unterstützen, gemeinsam durch Bund und Länder (sog. Kofinanzierung nach festem Verteilungsschlüssel)
  • Koordinierung der Installation und Wartung durch spezialisierte Behörden – Vorschlag staatliche Bauämter
  • Schaffung eines flächendeckenden Warnnetzes aus Sirenen mit Weckfunktion auf dem Stand der Technik informiert, gesteuert durch Leitstellen, zuverlässig die gesamte Bevölkerung (Leitstellen haben über Rückkanal die Gewissheit, dass die Warnung erfolgreich ausgespielt wurde)
  • perspektivisch: Anschluss der Sirenen an MoWas + Integration von satelitengestützten Pegelstandsmessgeräten für Flüsse als Datenlieferanten in MoWas

Edit: Weil ich schon sehe, wie von anderen Parteien versucht wird dem BMI die Schuld in die Schuhe zu schieben, wollte ich klarstellen, dass für den Katastrophenschutz die Kreisverwaltungsbehörden zuständig sind und die Länder Hilfestellung leisten. Da sollte die FDP in NRW besser prüfen, bevor hier Vorwürfe kommen (für NRW Quelle 18, für Bayern Quelle 19). Bei Naturkatastrophen kann gem. Art. 35 GG beim Bund Hilfe angefordert werden.

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